china light
Von Taipeh zum Mount Hehuan
Fragen wir erst einmal die Götter. Dazu werfen wir im Longshan Tempel von Taipeh zwei rote Holzstücke, geformt wie riesengroße Cashew-Nüsse, die Unterseite flach, die Oberseite gewölbt, auf den Boden. Weil die richtigen Seiten oben liegen, dürfen wir einen Zettel ziehen. Glück gehabt. Das Chi für die nächsten Tage scheint vielversprechend.
Etwas von dieser erhofften Lebensenergie erklingt schon in den wunderschönen Gesängen, mit denen die vielen Betenden im Innenhof des Tempels die buddhistische Göttin der Barmherzigkeit Guanshiyin anrufen. Während sie ihre Räucherstäbchen anzünden, bitten sie um Lebenskraft, Wohlstand und Glück. Eigentlich gilt dieser Wunsch wohl für den ganzen Inselstaat Taiwan, der sich bis heute als Republik China bezeichnet, da er sich als Erbe der nationalistisch-republikanischen Bewegung Sun Yat-Sens sieht.
Nach der Abdankung des Kaisers 1911 und dem verlorenen Bürgerkrieg gegen Mao Zedong zogen sich die Truppen Chiang Kai-sheks 1949 auf die Insel zurück. Heute nähern sich das große und das kleine China wieder an. „Wandel durch Versöhnung“ nennt es Präsident Ma Ying-jeou.
„Ilha Formosa“, schöne Insel, tauften portugiesische Seefahrer das Land, als sie 1590 vor der Nordküste Anker warfen. Die Ureinwohner sagen bis heute „Baodao“, was Schatzinsel bedeutet. Taiwan ist etwas kleiner als die Schweiz, aber mit fast 23 Millionen Einwohnern dicht besiedelt. In dem hochmodernen Land sind die Wege zu fernöstlicher Kultur, subtropischer Natur und asiatischen Religionen nicht weit. Grüne Regenwälder, alpine Berge und zerklüftete Küsten grenzen direkt an geschäftige Städte, in denen alte Traditionen und das 21. Jahrhundert aufeinander treffen. Was kaum jemand weiß: Zwei Drittel der Insel sind Bergland mit über 200 „Dreitausendern“, darunter auch der höchste Gipfel Asiens, der 3952 Meter hohe Mount Yushan.
Zeit für eine Schale warme Sojamilch, dazu ein paar Nudeltaschen mit Fleischfüllung und frittierte Teigrollen mit Gemüse. Derartiges bruzzelt in den Garküchen der 2,7-Millionen-Metropole fast an jeder Straßenecke. Gut für den Hunger zwischendurch. Da die Kulturrevolution die taiwanesische Küche verschonte, blieben Jahrtausende alte chinesische Kochtraditionen bewahrt. Besonders auf den Nachtmärkten der Stadt, etwa Shilin im Norden oder Linjiang Street im Südosten, sucht ein Heer von Hungrigen nach Scharfem und Süßem, nach Gebackenem und Frittierten.
Verständlich aber auch, dass nicht jeder Besucher über die exotische Zubereitung von Mägen, Maden, Entenzungen oder säuerlichem Tofu in Verzückung gerät. Dafür überzeugt ein Essen in einem Din Tai Fung-Restaurant, auch wenn das Fast-Food-Ambiente zunächst etwas stutzig macht. Wie im OP-Team stehen die Männer mit Mundschutz in der Küche und fertigen Berge von Teigtaschen mit Hackfüllung, die im Dampf gegart werden. Das klingt einfach, schmeckt aber göttlich. „In Hong Kong gab es dafür sogar einen Michelin-Stern“, meint unsere Begleiterin Michelle Chiu.
Seit den 90er Jahren explodierte Taipeh zur High-Tech-City. Ein Kennzeichen: Kostenloser Wireless-Internet-Zugang fast im gesamten Stadtgebiet. Ein weiteres: Taipei 101 war mit 508 Metern bis vor kurzem das höchste Haus der Welt. Dieser Beton-Bambus ragt aus einem Shopping Center heraus, von wo die Besucher mit 16,8 Metern pro Sekunde per Fahrstuhl zu einer wunderbaren Aussicht in den 89. Stock katapultiert werden. Hier hängt auch eine 660 Tonnen schwere Stahlkugel, die bei Taifunen oder Erdbeben Erschütterungen auffangen und Energie aus dem Gebäude ableiten soll.
Hochmodern und gut gekühlt präsentiert sich auch das Nationale Palastmuseum, das zwischen den Hügeln im Norden der Stadt liegt. Vor dem Gebäude posieren inzwischen auch zahlreiche chinesische Besucher vom Festland. Seit kurzem dürfen sie sogar individuell und nicht mehr nur in Gruppen anreisen. Sie wollen die bedeutendste Sammlung chinesischer Kunst sehen. Es warten filigrane Jade-Objekte, Porzellanwaren, Gemälde, Kalligrafien und Bronzen, die zur kaiserlichen Sammlung gehören und 5000 Jahre chinesische Geschichte widerspiegeln. Doch nur jeweils ein Prozent von dem, was Chiang Kai-shek zum Ärger der Volksrepublik mit auf die Insel nahm, können in wechselnden Ausstellungen präsentiert werden.
Im alten Stadtteil Dataocheng ist etwas vom historischen Taipeh lebendig. In den niedrigen Häusern der Dihua Street, reihen sich Geschäfte aneinander, vor denen säckeweise getrocknete Früchte, Pilze, Kräuter, Tee und Gewürze stehen. Was davon in der Mischung eines Apothekers landet, der hier lächelnd traditionelle Medizin verkauft, bleibt sein Geheimnis. Wenige Meter weiter lockt der Singsang am farbenprächtigen Xia Hai Tempel. Vor allem junge Frauen zünden hier ihre Räiucherstäbchen an und bitten die Ehestiftungsgottheit Chi Lin um den richtigen Partner.
Wer von Taipeh ins zentrale Hochland aufbricht, könnte meinen, das Land ließe sich durchqueren, ohne je das Erdreich zu berühren. Unzählige sich in- und übereinander verschlingende Trassen, über die der Verkehr dahin gleitet, schieben sich aus der Stadt hinaus. Hier und da klafft noch eine Lücke, über die aber bald Autos oder Bahnen dahinrasen werden. Neben dieser Modernisierung versucht Taiwan aber auch seit zwei Jahrzehnten das zu schaffen, wofür andere Länder 100 Jahre gebraucht haben: Die Einrichtung von Nationalparks, in denen ein Gleichgewicht zwischen Naturschutz und Erholung herrscht.
Ein Weg, um dort etwas Chi zu tanken, führt über die Autobahn 1 nach Taichung und dann landeinwärts nach Puli. Von dort windet sich eine schmale Straße an der Bergflanke hinauf zum Hehuanshan Nationalpark. Etwa auf halbem Weg zwischen Puli und dem Mount Hehuan liegt Cingjing. Zeit für einen Zwischenstopp, auf 2000 Metern. Auch die Wolken verschnaufen und legen sich den hohen Gipfeln jenseits des Tals wie Halskrausen um die Schultern. Seit wir vor zwei Stunden die tropische Ebene verlassen haben ist es spürbar kälter geworden. Am Halt der Hochgeschwindigkeitsbahn in Taichung stieg unseren Bergführer Cheng Tie-qing zu. Für Wanderungen über 3000 Meter ist ein Bergführer Vorschrift und für entlegene Gebiete sind vorab Genehmigungen einzuholen.
In Cingjing essen wir bei Gao Yun. Dazu gibt es Oolong-Tee, der in Taiwans Bergland in bester Qualität wächst. Mit grazilem Gang schwebt die „hohe Wolke“, so die Bedeutung ihres Namens, über den Boden. Früher war Gao Yun Tänzerin, heute zeigt sich ihr Kunstsinn im Design ihrer Speisen und Schlafplätze. Ihr Lover’s Treehouse, ein kreisrundes Baumhaus, das aus den Büschen ihres Grundstücks ragt, ist ihr begehrtestes Quartier. Über dem Dach des Hauses thront eine luftige Holzterrasse auf Stelzen, ein Ausguck wie an Deck eines Piratenschiffs. Ob sie sich als Chinesin vom Festland hier wohl fühle? „Ja, hier leben viele Menschen, die wie ich aus der Provinz Yunnan kommen“, meint Gao Yun höflich lächelnd.
Aus Yunnan stammen auch viele der Veteranen, die in den chinesischen Bürgerkriegen kämpften und mit Chiang Kai-shek 1949 auf die Insel kamen. Sie waren es, die die Berghänge rund um Cingjing kultivierten, die auf dem kargen Boden fruchtbare Farmen für Pfirsiche, Birnen und Kiwis anlegten und Graslandschaft für Kühe und Schafe abzirkelten.
Wir fahren weiter. Mit jedem Höhenmeter nimmt die Temperatur ab. Auf dem Pass in 3275 Metern sind es nur noch 10 Grad, dazu pfeift ein schneidender Wind. Mit dem Bus ist die Höhe in wenigen Stunden geschafft, mit dem Körper nicht. Die Straße ist auf den letzten Metern noch schmaler geworden, manche Bergrücken sind komplett kahl, aber die Luft kristallklar.
Unsere Endstation steht in 3150 Metern Höhe: Die renovierte Songsyue Lodge, Taiwans höchstes Hotel. Das Haus ist dicht an den Hang gebaut, eine Hälfte der Zimmer bietet eine fantastische Sicht ins Tal. Dahinter beginnen die Wanderwege auf die umliegenden Gipfel. Sicherheitshalber zeigt uns Michelle noch den Sauerstoffapparat im Notfallzimmer. „Erst die Maske mit Spray desinfizieren, abwischen, aufsetzen, grünen Schalter anknipsen, ruhig atmen. Dann wird alles gut.“
Trotz dieser frohen Botschaft schläft es sich mit leichten Kopfschmerzen in der ersten Nacht schlecht. Gut für alle, die den Sonnenaufgang nicht verpassen wollen. Noch im Dunkeln rumort es draußen. Stimmen stellen Kameras in Positur, bis die ersten Sonnenstrahlen am Horizont auftauchen. Langsam formen sich aus den dunklen Konturen Bergrücken, Felsen, Bäume und Wolken. Es entsteht ein Panorama, das trotz dünner Luft den Atem anhalten lässt. In das Klicken der Kameras mischen sich die Rufe erster Wandertrupps, die durch den klaren Morgen von den Berghängen widerhallen.
Bevor es auf den Mount Hehuan geht, gibt es Reisbrei, geschmorten Kohl und bunte Dumplings zum Frühstück. Für europäische Mägen nicht unbedingt gewohnte Fitnesskost. Nur gut zwei Kilometer sind es vom Zugang an der Nationalstraße 14 zum Nordgipfel des Mount Hehuan in 3422 Metern Höhe. Doch zwischen alpinen Sträuchern geht es steil bergauf. Also lieber sofort einen Gang zurück schalten. Trotzdem kommen unterwegs mehr Verschnaufpausen raus, als für das Selbstbewusstsein gut sind. Zum Trost bleibt mehr Zeit für den Blick in die Natur.
Die langsam verblühenden roten Azaleen haben noch immer die Kraft, ganze Hänge in bunte Teppiche zu verwandeln. Dazwischen suchen blaue Enzianblüten in den Felsnischen Schutz vor dem kräftigen Wind. Mit jedem Bergmeter fasziniert der Blick in die Ferne, aber auch das Outfit entgegen kommender Wanderer. Von Sommergarderobe bis Polarausrüstung ist alles dabei. Einige Dutzend mal „ni hao“, guten Tag, dem rasch ein gekichertes „bye, bye“ folgt. Dazwischen eifriges Kopfnicken und manchmal der Versuch, Hände und Füße sprechen zu lassen. Es irritiert nur, dass die stets lächelnden Gesichter von Jung und Alt jegliche Anstrengung vermissen lassen.
Irgendwann ist der Gipfel dann geschafft. Mit jedem tiefen Atemzug hoch über den Wolken fließt die Lebensenergie bis in den letzten Winkel des Körpers. Überwältigt muss man anerkennen: Was Taiwan zu bieten hat, macht Lust auf mehr. Aber so richtig wohl erst, wenn am Ende beides, Leib und Seele, in dieser Höhe angekommen sind.