Schrecklich schön
In seinen Tiefen soll ein Ungeheuer hausen, umgeben von einer Landschaft, die begeistert. „Loch Ness 360“ heißt die neue Wanderstrecke rund um Schottlands mystischen See.
Gerade noch Großstadt. Und jetzt, hier oben, diese Stille, die so schön entspannt. Selbst der feine Regen kann die Freude beim Blick über die Landschaft nicht trüben. Hier gehört er dazu, fällt aus tief hängenden Wolken auf Berghänge, die sich hinab ins dunkle Wasser des Loch Ness schieben. Mystische Stimmung, von Anfang an.
Wir wollen zu Fuß gehen, der Rundweg um den schottischen See ist nun komplett. Das letzte Stück, das den Great Glen Way auf der Nordwestseite mit dem South Loch Ness Trail auf der Südostseite verbindet, wurde fertig gestellt. „Loch Ness 360“ heißt es nun, das sind insgesamt 130 Kilometer mit bis zu 400 Metern Höhenunterschied. Wer gut zu Fuß ist, schafft das in fünf bis sechs Tagen. Aber es gibt ja keinen Grund zur Eile.
Hoch oben, am Abriachan Forest Park, kommen uns vier Wanderer entgegen, die auf dem Weg nach Inverness sind. Sie haben noch 17 Kilometer vor sich, wir, in entgegengesetzte Richtung bis Drumnadrochit noch zehn. Trotz der schweren Rucksäcke strahlende Gesichter. Veronika Sladka aus Prag stapft mit ihren drei Söhnen talwärts. Warum Schottland, warum Loch Ness? „Das können wir gar nicht so richtig erklären“, meint sie. „Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Ihr ältester Sohn sei deshalb schon mehrmals hier gewesen und habe immer wieder von der Landschaft geschwärmt. „Vielleicht auch, weil es an unsere Böhmische Schweiz erinnert.“
Nach dem heißen Sommer hat der Spätherbst die Landschaft in braungelbe Farben getaucht. Immer wieder gebietet die Natur Einhalt. Stehen bleiben und schauen, scheint sie zu befehlen. Trotz milchiger Luft lässt sich beim Rundblick über die großen Heideflächen und Farnfelder erahnen, welches Farbenspiel hier mit der erblühenden Vegetation über das Jahr abläuft. Doch so ganz muss auch jetzt nicht auf bunte Farben verzichtet werden: Ein Regenbogen neigt sich hinunter zum See.
Wir folgen dem Distel-Symbol an blauen Holzpfosten, die als Wegmarkierungen nach Drumnadrochit führen. Eine gute Gelegenheit, den zahlreichen Monster-Geschichten, die sich um Grobritanniens größten Süßwassersee ranken, auf den Grund zu gehen. Also rein ins Loch Ness Exhibition Centre. Adrian Shine, als Wissenschaftler um Klärung der Ungeheuer-Mythen bemüht, hat es vor 20 Jahren gegründet. Entsprechend wirkt die verwendete Technologie der visuellen Tour durch sechs Räume fast schon rührig, aber durchaus sehr informativ.
Ist Loch Ness wirklich ein „Jurassic Park“? Die Folklore erzählt seit Jahrhunderten von Seedrachen und Wasserpferden. 1933 soll ein Tier, einem Plesiosaurier ähnlich, eine Straße am See überquert haben. Die Sensationsmeldung war perfekt. Doch viele der in den Folgejahren auftauchenden Fotos erwiesen sich als Fälschung.
In den 70er Jahren wurden U-Boote und Unterwasserkameras für die Suche eingesetzt, 1987 mit der „Operation Deepscan“ sogar ein Schallwellen-Vorhand durch den 230 Meter tiefen See gezogen. Einzig für das Fazit, das Wasser sei zu kalt und biete zu wenig Nahrung für „räuberische Wesen“. Dafür erzählten die Bohrkerne vom Grund des Sees von anderen zurückliegenden Ereignissen. Man fand Glassplitter aus den Vulkanen Islands, Kohlepartikel aus früherem sauren Regen und radioaktive Isotope von Atomtests und Tschernobyl.
Urquhart Castle liegt zwar nicht direkt am Weg, aber der Abstecher zur Burgruine führt zur einst größten Festungsanlage in Schottland. Kurios ist, dass die strategisch wertvolle Anlage nie durch Angriffe zerstört, sondern von den eigenen Bewohnern in die Luft gesprengt wurde. Die Gebäude wurden anschließend systematisch geplündert und Steine und Dächer für den Bau umliegender Häuser abgetragen.
Am Südende von Loch Ness angekommen, geht es in Fort Augustus für einen anderen Blick auf die Lanschaft hinaus auf See. Das klare Wetter erlaubt heute einen kilometerweiten Blick. Es zaubert das Panorama eines schillernden Wasserspiegels, der am Horizont mit Wolken und Wälder zusammenstößt. An einigen Stellen tauchen die felsigen Uferhänge steil ins Wasser und lassen erahnen, dass es ziemlich tief hinab geht. Trotz wissenschaftlicher Entwarnung lässt es sich unterwegs nicht ganz vermeiden, in dem einen oder anderen Treibgut zwischen den Wellen vielleicht doch eine „ungeheuerliche“ Erscheinung zu vermuten.
Zurück am Bootsanleger lohnt ein Blick auf die Schleusen des Caledonian Canal. 1822 fertiggestellt, verbindet diese Wasserstraße, von der Loch Ness ein Teil ist, Schottlands Ost- und Westküste. Sie wird heute aber nur noch für touristische Schiffsreisen genutzt.
Von Fort Augustus aus winden sich jene neu hinzu gekommenen acht Kilometer des Rundwegs vom Seeufer hinauf auf die Bergrücken der Südostseite. Damit war „Loch Ness 360“ vollendet. Die wunderbaren Ausblicke von oben bestätigen, dass es eine gute Idee war, diesen Übergang zu schaffen.
Das Weglogo hat sich nun von einer Distel in ein Eichhörnchen verwandelt und weist zunächst landeinwärts zum Loch Tarff. Tiefblau liegt der See in der baumlosen Landschaft, über die ein heftiger Wind pfeift. Weiter geht es vom See auf eine 400 Meter über dem Meer liegende Hochebene. Etwa zehn Kilometer weiter, ab dem Whitebridge Hotel, folgt der Weg dem River Foyers, führt zurück in Richtung Loch Ness und hinunter ins Dorf Foyers.
Beim Abstieg zeigt sich: Diese Südost-Seite des Loch ist die stillere und noch schönere. Kein Verkehrslärm, stattdessen das Plätschern der Wasserfälle von Foyers. Näher an der Natur bedeutet hier: Übernachtung im hölzernen „Wigwam“ auf dem Campingplatz. Vorher mit den letzten Sonnenstrahlen noch ein paar Schritte direkt am Seeufer gehen, dann Chili con Carne am kleinen „Airstream“-Restaurant bestellen und nach dem Essen warten, bis das Lagerfeuer vor der Holzhütte erloschen ist. Anschließend schläft es sich tief und fest.
Am nächsten Morgen fährt uns Donald Forbes, der mit seiner Frau Lyn den Campingplatz leitet, wieder ein Stück bergauf, zurück zum Trail. Früher sei er hier jeden Morgen zur Schule hinaufgelaufen, schmunzelt der rüstige Senior.
Der Weg führt in dunklen Wald. Fliegenpilze, ein plätschernder Bach, knorrige Wurzeln im moosdurchsetzten Boden, Bäume und Büsche bilden einen dichten Vorhang. Eine Lehrerstimme schnarrt durchs Geäst, Kinderstimmen antworten. An der Grundschule Foyers ist die Pause zu Ende. Hören, aber nichts sehen können, irgendwie unheimlich.
Drei Kilometer weiter weist ein Schild hinab nach Boleskine. Dort stehen die Reste des Boleskine House. Weil es Privatgelände ist, bleibt der Zugang versperrt, nicht aber der Blick in die Vergangenheit. Hier lebte einst „das andere Monster“ vom See. 1899 kaufte Aleister Crowley das abgelegene Anwesen, um dort seine satanistischen Exerzitien zu zelebrieren.
Von der schwarzen Magie dieses Exzentrikers zeigten sich noch 70 Jahre später Vertreter der britischen Musikszene beeindruckt. Crowley war nicht nur einer der vielen Köpfe auf dem Sgt. Pepper-Album der Beatles, Anfang der Siebziger Jahre kaufte Jimmy Page, der Gitarrist von Led Zeppelin und Crowley-Fan, das Boleskine House und behielt es bis Anfang der 90er Jahre.
Unten an der Straße treffen wir Graeme Ambrose, Leiter von Visit Inverness Loch Ness, der nicht weit entfernt wohnt. „Boleskine House ist noch immer ein sensibles Thema. Vor zwei Jahren brannte es ab, meine Frau fuhr gerade vorbei, als es passierte. Im Moment weiß niemand, ob es wieder aufgebaut wird. Man würde es sich wünschen. Es ist ein Ort, der mit viel Geschichte verbunden ist, aber vieles von der historischen Innenausstattung ging in Flammen auf.“ Auch wenn nur noch einige Mauern übrig geblieben sind, ranken sich um das abgelegene Haus am See bis heute zahlreiche Gruselgeschichten.
Besichtigt werden kann der auf der anderen Straßenseite gelegene historische Friedhof. Auf einem der Grabsteine sind noch die Einschusslöcher von Flintenkugeln zu sehen, die 1746 während des Jakobiten-Aufstandes gegen britische Regierungstruppen abgefeuert wurden. Eine Gedenktafel erinnert an den Clanführer Simon Fraser, der an der Schlacht bei Culloden teilnahm. Er war der letzte Mann, der auf dem Tower Hill in London geköpft wurde. Ein Tunnel, der zu Crowleys Zeiten für finstere Praktiken hinauf zum Boleskine Haus geführt haben soll, ist allerdings nicht zu entdecken.
Zurück im Wald führt der Weg über Inverfarigaig zuletzt dichter am Wasser weiter nach Dores. Hier wohnt jemand, für den die Suche nach dem See-Monster zur Lebensaufgabe wurde. „Nessie-Hunter“ Steve Feltham residiert in einem Wohnwagen direkt am Ufer. Er verließ die Freundin, verkaufte sein Haus und ist seit Anfang der Neuziger Jahre dem Ungeheuer professionell auf der Spur. Heute hat er keine Zeit. Schon wieder hat eine Filmcrew angefragt, ob er als Experte zur Verfügung steht. Gefunden hat er das sagenhafte Wesen bislang zwar nicht, dafür aber seinen Lebenstraum wahr gemacht. Wenn dieser Traum auch nicht für jeden nachvollziehbar ist, ihn auch umgesetzt zu haben beeindruckt. Ein konsequenter Entschluss, der für die letzten Schritte zurück nach Inverness nachdenklich macht.
INFOS
Übernachtung:
The Lochness Inn,
Lewiston, Drumnadrochit
http://www.staylochness.co.uk/
The Inch Hotel,
Fort Augustus
https://inchhotel.com
Whitebridge Hotel, Stratherrick, Inverness
https://www.whitebridgehotel.co.uk
Campingplatz Loch Ness Shores
http://lochnessshores.com
sowie diverse Guest Houses
z.B. Pottery House Loch Ness, Dores
https://www.potteryhouse.co.uk/
Sehenswertes rund um Inverness:
Culloden Battlefield Visitor Centre
https://www.nts.org.uk/visit/places/culloden
Inverness Marina and Dolphin Spirit
https://dolphinspirit.co.uk
Geschichte und Infos zum Boleskine House
(Lesetipp für Musikfreunde: Auch in Grégoire Herviers Krimi-Roman „Vintage“, bei der es um die Suche nach einer legendären Gibson-Gitarre geht, spielt das Boleskine House eine Rolle.)